Hast du schon mal gehört, du seist „zu sensibel“ oder würdest „überreagieren“? Oder warst du eben noch völlig ruhig und plötzlich völlig überfordert, ohne zu wissen warum?

Wenn dir das bekannt vorkommt, dann bist Du nicht allein. Viele neurodivergente Menschen erleben Emotionen intensiver, und sie zu regulieren kann sich anfühlen wie einen Sturm ohne Kompass zu navigieren. Heute möchte ich darüber sprechen, warum das so ist und wie das Verständnis unseres Nervensystems, insbesondere das Konzept des Fensters der Toleranz, einen grossen Unterschied machen kann.

Was ist Emotionale Regulation?

Emotionale Regulation ist die Fähigkeit, mit eigenen Gefühlen flexibel und gesund umzugehen. Es bedeutet nicht, Gefühle zu unterdrücken oder immer ruhig zu bleiben, sondern, die emotionale Welle reiten zu können, ohne darin unterzugehen.

Für neurotypische Menschen ist das oft intuitiver. Für neurodivergente Menschen, etwa mit ADHS, Autismus oder beidem, braucht es mehr Bewusstsein, Übung und Unterstützung.

Grosse Gefühle und Neurodivergenz

Neurodivergente Gehirne verarbeiten Emotionen oft anders. Viele von uns fühlen besonders intensiv. Freude kann ekstatisch sein. Frust fast unerträglich. Scham wie eine Flutwelle. Unsere emotionalen Erfahrungen sind oft stärker, dauern länger und sind schwieriger wieder zu regulieren.

Ein paar Gründe, warum Emotionale Regulation für neurodivergente Menschen herausfordernder sein kann:

  • Exekutive Funktionen: Die Hirnregionen, die Impulse und Emotionen steuern, arbeiten anders.
  • Sensorische Sensitivitäten: Reizüberflutung kann emotionale Reaktionen auslösen oder verstärken.
  • Soziale Erfahrungen: Missverstanden, abgelehnt oder beurteilt zu werden, hinterlässt emotionale Spuren.
  • Rejection Sensitivity: Besonders häufig bei ADHS, führt zu intensiven Reaktionen auf (vermeintliche) Kritik oder Ausgrenzung.

Das ist kein Fehler, es ist ein neurologischer Unterschied. Aber ohne die richtigen Werkzeuge oder Unterstützung kann es erschöpfend und verwirrend sein.

blue ocean water during daytime

Das Fenster der Toleranz

Das Fenster der Toleranz ist ein Konzept aus der Neurowissenschaft und Traumatherapie. Es beschreibt den Bereich, in dem wir uns sicher, reguliert und handlungsfähig fühlen. Innerhalb dieses Fensters können wir klar denken, unsere Emotionen steuern und auf unsere Umwelt angemessen reagieren.

  • Oberhalb des Fensters geraten wir in Übererregung, Gefühle wie Angst, Wut, Panik oder Überforderung nehmen überhand.
  • Unterhalb des Fensters fallen wir in Untererregung, wir fühlen uns taub, abgekoppelt, erstarrt oder abgeschaltet.

Neurodivergente Menschen haben oft ein engeres Fenster, durch erhöhte Sensibilität, Erfahrungen von Ausgrenzung oder ein reaktiveres Nervensystem. Das bedeutet: Wir werden leichter aus dem Gleichgewicht gebracht und es ist schwieriger, wieder zurückzufinden.

Was hilft?

Zu verstehen, dass das neurologisch ist, nicht moralisch oder persönlich, ist der erste Schritt. Du bist nicht „zu viel“. Du bist nicht kaputt. Dein Gehirn braucht einfach andere Arten von Unterstützung.

Hier ein paar Dinge, die helfen können, dein Fenster zu erweitern und deine Emotionale Regulation zu stärken:

  • Selbstwahrnehmung: Beobachte, was dich aus deinem Fenster bringt und was dir hilft, wieder hineinzufinden.
  • Co-Regulation: Sichere, beruhigende Beziehungen helfen deinem Nervensystem, sich wieder zu stabilisieren.
  • Routinen und Vorhersehbarkeit: Sie senken den Grundstress und erleichtern Regulation.
  • Körperorientierte Werkzeuge: Tiefe Atmung, Bewegung, sensorische Pausen oder Erdungstechniken können das Nervensystem beruhigen.
  • Professionelle Unterstützung: Ein Coach oder eine Therapeut:in können individuelle Strategien mit dir erarbeiten.

Du bist nicht allein

Wenn sich Emotionale Regulation wie ein dauerhafter Kampf anfühlt, versagst du nicht. Du arbeitest mit einem Nervensystem, das anders gebaut ist und vielleicht genau deshalb so tiefgründig, intensiv und feinfühlig ist.

Mit deinem Gehirn zu arbeiten statt dagegen, das ist ein kraftvoller Akt von Selbstmitgefühl. Und er beginnt mit dem Verständnis, dass deine grossen Gefühle gültig sind, deine Herausforderungen real sind und dass Unterstützung möglich ist.

Lass uns darüber sprechen. Komm, wie du bist.

Chantal